Konsultationen bei Herrn Weierstraß

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Was für ein Glück für die Wissenschaft, daß ihre Eltern Schwierigkeiten hatten, Tapeten für das Kinderzimmer zu bekommen. Weiß doch die Legende zu berichten, daß die zwei Töchter des Hauses voll "Einfallsreichtum" die Wände längere Zeit nur mit Makulaturpapier schmückten - neben Zeitungen verwandten sie hierfür mathematische Texte.

Vielleicht war das der Anlaß dafür, daß die Gesuchte Jahre später mit ihren Arbeiten große Mathematiker begeisterte. Sicher trug auch ihr Onkel sein Scherflein dazu bei; immerhin wies er sie in die Anfangsgründe der Mathematik ein. Ihre Schwester scheint sich eher an die Zeitungen an den Kinderzimmerwänden gehalten zu haben: Sie beschäftigte sich zeitlebens intensiv mit Literatur.

Das Dogma, Frauen hatten an der Universität im allgemeinen und in der Naturwissenschaft im besonderen nichts zu suchen, untergrub die Gesuchte zeitlebens gründlich. Karl Theodor Weierstraß, ein "entschiedener Gegner der Zulassung von Frau en zu Universitätsstudien" (wie ein Biograph zu berichten weiß), ließ sich angesichts ihrer Fähigkeiten zu folgenden Worten hinreißen: "Da es das erste Mal ist, daß eine Frau auf Grund mathematischer Arbeit promoviert zu werden wünscht, so hat nicht nur die Fakultät alle Veranlassung, strenge Forderungen zu stellen, sondern es liegt auch im Interesse der Aspirantin sowohl als in meinem. Was aber den Stand der Bildung [der Gesuchten] überhaupt angeht, so kann ich versichern, daß ich nur wenige Schüler gehabt habe, die sich, was Auffassungsgabe, Urteil, Eifer und Begeisterung für die Wissenschaft angeht, mit ihr vergleichen ließen." Er hatte sie daher auch als Schülerin aufgenommen und gewährte ihr zweimal pro Woche eine "Konsultation", denn - Vorlesungen durfte sie in Berlin nicht besuchen.

Selbst, als sie sich einige Jahre später in Stockholm ("ich bin der Stockholmer Hochschule so dankbar, die allein von allen Universitäten Europas ihre Pforten für mich öffnete") habilitiert hatte, blieb ihr bei Besuchen in Berlin der Hörsaal versperrt. Ihre Arbeiten richteten sich zu Anfang thematisch nach dem, was ihren Lehrer beschäftigte. Bald entwickelte sie jedoch einen eigenen Stil und begann Schriften zu verfassen, die auch physikalische - teilweise bereits gelöste Probleme aufgriffen, um sie auf eine korrekte mathematische Basis zu stellen. So schrieb sie beispielsweise über "die Gestalt des Saturnringes" oder die "Brechung des Lichtes in kristallinischen Mitteln", verfaßte ihre wichtige und preisgekrönte Schrift "über die Rotation eines schweren Körpers um einen festen Punkt", arbeitete aber auch auf dem Gebiet der partiellen Differentialgleichungen.

Letztere Arbeit wurde als ihre Promotion angenommen, wobei ihr jedoch auf Antrag das Rigorosum erlassen wurde. In Abwesenheit wurde sie in Göttingen zur Doktorin ernannt, nachdem sie dem Dekan geschrieben hatte, die "ungewohnte Lage", in der sie "genötigt wurde, persönlich unbekannten Männern Antwort zu stehen", würde "peinlich und verwirrend" auf sie wirken. Der mutmaßlich wahre Grund folgte einige Sätze später: "Ich beherrsche die deutsche Sprache nur sehr unvollkommen, wenn es gilt, mich mündlich auszudrücken, obwohl ich daran gewohnt bin, sie beim mathematischen Denken und Schreiben anzuwenden."

Nach Deutschland war sie gekommen, weil in ihrer Heimat Rußland ein Studium undenkbar gewesen wäre. Ihre Heirat war eine Vernunftehe, die sie einging, um sich die Möglichkeit für ein Studium zu eröffnen. Vielleicht waren sich die Ehepartner zu ähnlich, was ihre immer neuen Pläne und ihre Begeisterungsfähigkeit betraf; jedenfalls verlief die Ehe nicht eben spannungsfrei, weshalb sich die Beiden zu einer langen Trennung entschlossen. Der Selbstmord ihres Mannes war ihr denn auch kein Anlaß zu übermäßiger Trauer; viel schwerer verwand sie den Tod ihres Vaters, der zu Anfang sehr streng und skeptisch den wissenschaftlichen Ambitionen seiner Tochter entgegengetreten war; im Alter jedoch soll seine Härte einer gewissen Ein sicht gewichen sein.

Nicht nur in der Mathematik erwarb sie sich Meriten; Zeitungsartikel, ihre Kindheitserinnerungen und ein Roman zeugen von großem Interesse auch für soziale Fragen. "Sie stand schließlich im Mittelpunkt des Interesses der Frauenbewegung", schrieb daher Felix Klein über sie. "Es ist zu bewundern, daß sie trotz ihrer vielen Interessen auf anders gearteten Gebieten, trotz ihres wechselvollen Lebens so viel in der Mathematik geleistet hat."

Wer war die Mathematikerin?
 
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