Gruselgeschichten

Marchocias

Lord of Demons
Der Geisterritter

Eigentlich ist nur meine Freundin Beate schuld. Wenn sie nicht so zickig gewesen wäre, hätte ich vor ein paar Monaten nicht die gruseligste Nacht meines Lebens verbringen müssen ...
Es war ein Samstagabend. Bea und ich waren gemeinsam auf Piste. Finanziell konnten wir beide als zukünftige Rechtanwaltsgehilfinnen keine großen Sprünge machen. Aber meine Freundin hatte ihren Vater immerhin sein Auto abschwatzen können. Daher waren wir motorisiert. Anders wären wir auch nicht in die neue Großdisco gekommen, die ungefähr 30 Kilometer von unserem Dorf entfernt eröffnet hatte. Der letzte Bus in die Richtung fuhr abends um sechs ...
Jetzt aber war es fast Mitternacht. Der Laden begann sich langsam zu füllen. Da erblickte ich plötzlich Pascal!
Mein Ex-Freund war mit seiner neuen Flamme aufgekreuzt. Obwohl wir schon seit einem halben Jahr nicht mehr zusammen waren, gab mir sein Anblick immer noch einen Stich ins Herz.
Ich legte meine Hand auf Beas Schulter.
"Laß' uns abhauen!"
"Nur, weil Pascal gekommen ist?" Meine Freundin hatte ihn also ebenfalls bemerkt. "Mel, hier sind ein paar tausend Leute. Und es gibt reichlich gutaussehende Typen, findest du nicht?"
"Mensch, Bea, ich habe einfach keine Lust auf Pascal und seine ... Mist, da kommt er ja schon!"
Bei der lauten Musik hatte mein Ex unmöglich hören können, was ich Bea ins Ohr gebrüllt hatte. Aber es war, als ahnte er meine Gefühle. Feixend steuerte er auf uns zu, seine eingebildete Tussi im Schlepptau.
"Hallo, Bea, hallo, Mel! Ich wollte euch nur einen schönen Abend wünschen. Amüsiert euch gut ..."
Mit diesen Worten grinste er mich unverschämt an. Dann verzog er sich zum Glück mit seinem Anhängsel Richtung Tanzfläche.
"Fahr' zur Hölle, du Mistkerl!", stieß ich wütend hervor.
"Ich weiß gar nicht, was du hast." Nun meldete sich auch noch Bea zu Wort. "Er war doch richtig nett! Warum kannst du nicht normal mit ihm umgehen, nur weil ihr nicht mehr zusammen seid?"
"Weil er ein Schuft ist, darum! Laß' uns ins FAIR WAY fahren, ja?"
"Wieso das denn? Mir gefällt es gut hier!"
"Ich will aber nicht bleiben, kapierst du das nicht?"
"Und ich bin nicht deine Privat-Chauffeurin!", giftete Bea.
"Wenn das so ist - ich finde schon jemanden, der mich ins FAIR WAY gondelt!", fauchte ich zurück. Mit diesen Worten rauschte ich beleidigt davon. Es kam mir vor, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen.
Was bildete sich meine sogenannte Freundin überhaupt ein? Durfte sie über meinen Samstagabend bestimmen? Nur, weil sie ein Auto zur Verfügung hatte und ich nicht?
Ich war jetzt wirklich sauer. Gleichzeitig hatte ein gewisser Trotz von mir Besitz ergriffen. Ich wollte mich unbedingt amüsieren, jetzt erst Recht!
Auf dem Parkplatz wirkte die kühle Nachtluft wie ein Schock auf mich. Mit meinem Minikleid plus modischer Strickjacke war ich ja nicht gerade warm angezogen.
Doch nun lachte mir scheinbar das Glück.
"Hallo, Melanie!"
Ich blickte auf. Sandra winkte mir zu. Ich kannte sie nur flüchtig, aus der Berufsschule. Ich wußte noch nicht einmal ihren richtigen Nachnamen. Müller oder Meier oder so etwas. Jedenfalls ging ich zu ihr hinüber.
"Das ist Peter, mein Freund!" Sandra stellte mir einen schlaksigen Kerl vor, der gerade die Fahrertür seines Lancia aufschloß.
"Wir wollen ins FAIR WAY", fuhr meine Bekannte fort. "Hier ist doch nichts los ..."
Mein Herz schlug schneller.
"Ins FAIR WAY? Echt? Könnt ihr mich mitnehmen?"
"Klar doch", nuschelte dieser Peter. Er zeigte sich plötzlich sehr freundlich. Ich durfte sogar in dem Lancia vorne sitzen. Den Grund dafür bemerkte ich allerdings sehr schnell. Auf diese Weise konnte er nämlich meine in dunklen Strumpfhosen steckenden Beine besser anstarren. Und das, während seine Freundin auf dem Rücksitz kauerte!
Lange ging das natürlich nicht gut.
Peter lenkte den Lancia über Nebenstraßen und Feldwege. Zwischendurch faßte er mir immer wieder ans Knie.
"I ... ich dachte, zum FAIRWAY geht es über die Autobahn!", warf ich schüchtern ein.
"Wenn man unbedingt von den Bullen gekrallt werden möchte ...", grinste Peter. Erst jetzt fiel mir seine Alkoholfahne auf! Ich biß mir auf die Unterlippe. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Ich war zu einem Kerl ins Auto gestiegen, der mich nicht nur befummelte, sondern auch noch sternhagelvoll war!
Auf dem Parkplatz hatte er völlig nüchtern gewirkt. Peter gehörte offenbar zu den Trinkern, denen man nicht auf Anhieb anmerkt, wieviel sie intus haben.
Sandras Freund lenkte seinen Lancia über einen unbeleuchteten Feldweg. Links und rechts von uns erblickte ich nur dunkle Tannen.
"Halt' an!", forderte Sandra, als Peter gerade mal wieder mein Bein betatschte.
Gehorsam stieg ihr Freund in die Eisen. Vermutlich dachte er, sie müßte mal für kleine Mädchen. Ich hatte das auch angenommen. Aber ich sollte schnell eines Besseren belehrt werden ...
Ich stieg nichtsahnend aus und klappte den Beifahrersitz nach vorne, um Sandra herauszulassen.
Sie dankte es mir, indem sie mich hart vor die Brust stieß. Ich strauchelte und fiel ins Unterholz.
"Sieh' doch zu, wie du nach Hause kommst, du Miststück!", keifte sie. "Ich werde dich lehren, meinen Freund anzumachen! - Peter, laß' uns fahren!"
Und bevor ich auch nur einen Ton sagen konnte, hatte dieser verflixte Kerl den Motor wieder gestartet. Sandra hüpfte auf den Beifahrersitz und knallte die Tür zu.
Wenig später sah ich von dem Lancia des sauberen Pärchens nur noch die Rücklichter.
Erst jetzt erfaßte ich die Situation richtig.
Ich war allein, mitten in der Nacht, in einem dunklen Waldstück. Und zwar mindestens dreißig Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt!
Dieser Gedanke ließ mich in Tränen ausbrechen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte. Aber dann beschloß ich, das Beste aus der Situation zu machen. Auch dieser Feldweg mußte irgendwo auf eine Straße führen. Von dort aus konnte ich vielleicht nach Hause trampen. Oder wenigstens in den nächsten Ort gelangen ...
Zwar hatte ich auch mein Handy dabei. Aber ich wollte keinesfalls meine Eltern anrufen, um mich abholen zu lassen.
Es gab zu viele Dinge, die ich hätte erklären müssen. Und was für einen Aufstand sie machen würden, wenn ich dann am nächsten Samstag wieder ausgehen wollte!
Ich beschloß, mich lieber selber durchzuschlagen ...
*
Käuzchenrufe erschreckten mich zunächst. Doch nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt. Da waren allerdings noch andere Tiere, die im Unterholz raschelten. Ich hoffte doch sehr, daß es nur Tiere waren. Aber - was sonst?
Ich spürte immer wieder Tannenzweige, die mich streiften. Dann zuckte ich jedes Mal zusammen.
Nur der Mond spendete ein wenig Licht. Ansonsten mußte ich in absoluter Dunkelheit vorwärts stolpern. So manches
Mal strauchelte ich. Doch zum Glück knickte ich in meinen kniehohen Lederstiefeln nicht um.
Allmählich verlor ich jedes Zeitgefühl. Der Feldweg schien nicht enden zu wollen. Und doch war der Lancia von diesem verflixten Peter in diese Richtung gefahren - oder? Dann mußte hier doch auch irgendwo eine Straße sein!
Mir stiegen schon wieder die Tränen der Verzweiflung in die Augen.
Da ertönte plötzlich eine seltsame Musik. Ich blieb stehen. Hatte ich mich getäuscht? War es nur der Wind, der in den Tannenwipfeln rauschte?
Aber das war es nicht. Die Musik wirkte seltsam altmodisch. Also kein Techno oder so etwas. Aber auch keine Tanzmusik oder Schlager, wie sie manchmal nachts im Radio gespielt werden.
Jedenfalls ging ich in die Richtung, aus der die Töne kamen. Wo Musik gespielt wird, da müssen Menschen sein. Das sagte ich mir damals. Inzwischen bin ich anderer Meinung ...
Ich weiß nicht, wie weit ich in den Wald hineinging. Ein paar hundert Meter waren es bestimmt. Jedenfalls sah ich bald Licht vor mir erscheinen!
Mein Herz klopfte lauter. Die Helligkeit war unstet, flackerte und schmerzte in meinen Augen. Fackeln waren es, die jemand entzündet hatte!
Die Pechlichter beleuchteten ein Ruine, die mitten im Wald auf einer Lichtung stand. Schwarze Mauerreste ragten in die Höhe. Die Natur hatte das Gebäude größtenteils schon zurückerobert. Moose und Gräser wuchsen auf großen Steinquadern, hatten einstmals mächtige Mauern bersten lassen.
Und die Musik erklang immer noch.
Ich fürchtete mich. Aber gleichzeitig wurde ich auch magisch von dem Unbekannten angezogen. Ich mußte einfach wissen, was sich zwischen diesen Steintrümmern abspielte ...
Die Fackeln waren in den Erdboden gesteckt. Sie bildeten ein Dreieck. Und inmitten dieses Dreiecks konnte ich eine Gestalt erkennen.
Ich kniff die Augen zusammen. Es war ganz eindeutig ein Mann, der dort vor mir stand. Aber dieser Mann sah sehr ungewöhnlich aus.
Sein glattrasiertes Gesicht wirkte traurig und gedankenverloren. Er sah gut aus, das muß ich schon sagen. Männlich-kantig, mit kräftigem Kinn und schönen Augen. Seine langen Haare fielen ihm bis auf die Schultern.
Aber sein Körper steckte in einer glänzenden Ritterrüstung!
In den Händen schließlich hielt er ein altertümliches Saiteninstrument. Wahrscheinlich eine Laute oder so etwas.
Ich erinnerte mich, einmal in meinem Geschichtsbuch eine Abbildung davon gesehen zu haben.
Jedenfalls war es diese Laute, von der die seltsame Musik stammte. Der Mann hatte mich nun bemerkt, obwohl ich mich immer noch außerhalb des Lichtscheins der Fackeln aufhielt.
Er ließ sein Musikinstrument in das Gras sinken.
"Kommt näher, holde Jungfrau!"
Er sprach sehr altertümlich, aber ich konnte ihn verstehen. Der Mann in der Ritterrüstung streckte seinen rechten Arm aus. Es war, als ob er mich an einem unsichtbaren Band zu sich hin ziehen würde.
Die Angst hatte mich wieder fest im Griff. Ich hätte fortlaufen sollen. Aber eine Macht, die ich mir nicht erklären konnte, hielt mich fest. Ja, sie sorgte sogar dafür, daß ich mich dem Unheimlichen noch weiter näherte.
Denn gruselig war er. Zugegeben, besonders furchterregend sah er nicht aus. Nicht wie ein Monster im Horrorfilm oder so. Eigentlich war er sogar attraktiv, bis auf die unnatürliche Blässe. Aber er wirkte eben, als wäre er nicht von dieser Welt. Anders kann ich das nicht ausdrücken.
Scheinbar hielt der ganze Wald den Atem an. Die Käuzchen waren verstummt, und auch die kleinen Tiere im Unterholz hatten ihre Aktivität eingestellt.
Eine bedrohliche Stille breitete sich aus, während ich Schritt für Schritt dem Ritter näherkam.
Schließlich stand ich ihm auf Armeslänge gegenüber. Er war so groß, daß er mich um einen Kopf überragte. Ich hatte irgendwo mal gelesen, daß die Menschen im Mittelalter viel kleiner gewesen seien als heutzutage. Demnach mußte der Ritter in dieser Zeit ein wahrer Riese gewesen sein.
Aber - woher wollte ich wissen, daß er wirklich aus dem Mittelalter stammte? Das war doch völlig unmöglich! Wahrscheinlich war ich an einen dieser Typen geraten, die sich mittelalterliche Kostüme anziehen und ihre Fantasyspiele in freier Natur machten!
Diese Erklärung beruhigte mich sehr. Aber nur für wenige Momente.
Denn dann bemerkte ich, daß der Mann nicht blinzelte!
Sein Blick war starr wie der einer Schlange. Ich zitterte am ganzen Leib. Da begann der Ritter wieder zu sprechen.
"Habt keine Furcht, liebliche Rosenblüte! Ihr werdet nach allen Regeln der holden Minne behandelt!"
Ich verstand kein Wort. Aber plötzlich kniete der Mann vor mir nieder. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.
Unter seinem Umhang zauberte er eine langstielige Rose hervor und reichte sie mir.
Meine Hände zitterten so stark, daß ich die Blume kaum ergreifen konnte. Aber schließlich gelang es mir doch.
Die Rose war echt. Ich roch ihren unverwechselbaren Duft. Und ich spürte ihre Stacheln, die in meine Fingerkuppen drückten.
"D ... danke", brachte ich schließlich hervor.
Der Ritter erwiderte nichts. Er machte eine einladende Handbewegung. Zwischen einigen halb verfallenen Mauern stand eine lange Festtafel. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt. Falls sie überhaupt schon dort gewesen war. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, was nun Wirklichkeit und was Zauberei war. Eine unwirkliche Atmosphäre umgab mich.
"Nehmt Platz, holde Jungfrau!"
Der Wunsch des Ritters klang mehr wie ein Befehl. Ich beeilte mich, ihm nachzukommen. Schließlich war ich völlig in der Hand dieses seltsamen Wesens. Wer weiß, was er mit mir anstellte, wenn ich mich weigerte!
Gehorsam ließ ich mich auf die grobe Holzbank nieder. Vielleicht würden Holzsplitter meine Strumpfhosen zerreißen.
Aber das war mir in dem Moment herzlich egal.
Plötzlich hatte der Ritter einen Pokal in der Hand. Es war ein schweres Gefäß aus purem Gold, besetzt mit Edelsteinen.
"Aus dem Heiligen Land habe ich diesen Becher mitgebracht", sagte er mit hohl klingender Stimme. "Trinkt den edlen Rebensaft, holdes Kind."
Der Pokal war so schwer, daß ich ihn kaum mit beiden Händen heben konnte.
Aber schließlich gelang es mir doch. Kühl rann der Wein über meine Lippen. Ich war so aufgeregt, daß ich etwas von dem Wein verschüttete. Er tränkte mein Kleid. Aber der größte Teil landete doch in meiner Kehle. Der Wein schmeckte gut, soweit ich das beurteilen konnte. Ich bin keine Weinkennerin.
"Sehr gut", lobte der Ritter. "Somit hat unser Brautmahl begonnen. Noch bevor die Sonne aufgeht, werde ich Euch als meine Gemahlin in meine Gemächer führen!"
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Ich sollte einen Geisterritter aus dem Mittelalter heiraten?
Instinktiv sprang ich auf. Ich wollte fliehen.
Doch inzwischen waren zwei weitere Gestalten hinter mir aufgetaucht. Diese Wesen sahen nun wirklich wie Geister aus. Ihre Körper waren feinstofflich. Man konnte halb durch sie hindurchsehen. Aber an ihrer Kleidung und Haartracht waren sie als ehemalige Menschen des Mittelalters zu erkennen.
"Unsere Trauzeugen halten sich schon bereit, verehrungswürdige Rosenblüte", sagte der Ritter. Er nahm nun ebenfalls einen Schluck von dem Rotwein aus dem Pokal. "Es fehlt nur noch der Geistliche, der die Trauung vollzieht ..."
Ich sah einen großen Steinsarg, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Oder wurde dieses Ding von dem Ritter gerade eben herbeigezaubert? Wer konnte das schon sagen?
Jedenfalls bestand der Sargdeckel aus einem Bronzerelief. Es stellte einen bärtigen Mann in Bischofstracht dar.
Und dieses aus Bronze geformte Bildnis begann plötzlich zu leben!
Das war zuviel. Ich schrie und weinte, als ob ich von Sinnen wäre. Dabei bedrohte mich überhaupt niemand. Aber diese übersinnlichen Erscheinungen konnte ich nicht verkraften.
"Beruhigt euch doch, holdes Kind", sagte der Ritter zu mir. Dann nahm er meine Hand und beugte seine Lippen zu einem eleganten Handkuß hinunter ...
*
Ich spürte die Feuchtigkeit an meiner Hand.
Konnte ein Geist so nasse Lippen haben?
Und dann sah ich den Jagdhund, der an meinen Fingern leckte.
Außerdem den Förster in seiner grünen Uniform.
Ich muß wohl unzusammenhängendes Zeug gestammelt haben. Jedenfalls kniete der Mann in Grün sich neben mich ins Gras. Es war noch feucht vom Morgentau. Die Sonne war soeben aufgegangen.
"Sind Sie in Ordnung, junge Frau? Haben Sie hier in den Ruinen übernachtet?"
Ich schaute mich um. Der Ritter war verschwunden. Auch der Pokal und die Trauzeugen, der Tisch und der Sarg des Bischofs. Da waren nur ein paar Mauertrümmer und sonst nichts.
Und ich? Ich hatte mich offenbar zwischen den Ruinen wie ein Kätzchen zusammengerollt. Ich fror, was auch kein Wunder war. Schließlich hatte ich auf dem Waldboden geschlafen, nur in Minikleid und Strickjacke.
"Ich ... ich habe mich verlaufen", sagte ich zu dem Förster. Und dann mußte ich niesen.
Der Forstbeamte nahm mich in seinem Jeep ins nächste Dorf mit. Auf dem Weg zum Auto kamen wir ins Gespräch.
"Die Simonsburg wurde schon vor Jahrhunderten zerstört", erzählte der Förster. "Man sagt, der letzte Besitzer des Anwesens hätte keine Frau mehr gefunden. Deshalb sei die Familie ausgestorben. Und angeblich geistert dieser Ritter immer noch durch die Gegend und sucht nach einer neuen Herzensdame, um seine Sippe weiterführen zu können ..."
Ich nieste gleich zweimal hintereinander. Der Förster führte meine Blässe auf die Erkältung zurück, die ich mir offenbar eingefangen hatte.
Ich habe mit niemandem über mein Erlebnis gesprochen. Schließlich möchte ich nicht für verrückt erklärt werden.
Doch mit dieser anonymen Geschichte habe ich mir alles von der Seele geschrieben.
Aber bis heute weiß ich nicht, ob ich wirklich den Geisterritter gesehen habe. Oder ob ich einfach nur in den Ruinen eingeschlafen bin und einen sehr heftigen Traum hatte ...
 

Marchocias

Lord of Demons
Voodoo in Chelsea

Waren Sie schon mal arbeitslos?

Also ich, ich kann ein Lied davon singen. Meist hab‘ ich den nächstbesten Drecksjob angenommen, um das Job Center möglichst wenig von innen sehen zu müssen.
Ich meine, London ist eine schöne Stadt. Trotz allem. Dort gibt es nettere Plätzchen als das Arbeitsamt, habe ich Recht?
Nach meinem letzten Rausschmiss hatte ich ein saumäßiges Glück. Keine vier Wochen, und ich war wieder in Lohn und Brot.
Als Beifahrer für so einen Tiefkühlkost-Homeservice. Zusammen mit einem alten Knaben namens Lester brachte ich Leuten ihre Tiefkühlkost nach Hause. Die Kunden bestellen das Zeug per Telefon oder Internet vor, und Lester und ich rasen dann los, um zu liefern.
Also, der alte Lester war ein echtes Problem für mich.
Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich hatte von Anfang an Schiss vor ihm. Dabei war er immer freundlich, klopfte mir auf die Schulter und nannte mich Söhnchen.
Klar, vom Alter her hätte er wirklich mein Dad sein können. Nur von der Hautfarbe her nicht. Er ist nämlich ein Schwarzer.
Und körperlich - also, ich bin ganz gut beieinander. Bei vielen meiner Jobs waren harte Muckis gefragt. Ich habe als Möbelpacker, als Rausschmeißer und bei London Transport gearbeitet. Lester ist einen Kopf kleiner als ich und hat eine ziemlich spillerige Figur. Ich hatte echt keine Angst, dass er mir was vors Maul hauen könnte.
Es war etwas anderes, das mir auf den Geist ging. Lester wirkte oft so, als wäre er nicht ganz da. So, als würde er völlig zugekifft in unserem Mitsubishi Lieferwagen sitzen. Aber das konnte es auch nicht sein. Ich erkenne Dope, wenn ich es rieche. Aber Old Lester miefte immer nur nach seinem Gentleman’s Choice Rasierwasser.
Stoned war mein Kollege also nicht. Sonst hätte er wohl auch nicht den Irrsinnsverkehr von Inner London bewältigen können. Denn wenn wir auf Tour waren, saß Lester immer am Lenkrad. Er war der Boss, sozusagen. Und das war auch richtig so. Schließlich knechtete er schon zehn Jahre bei dem Tiefkühl-Homeservice. Und ich gerade mal drei Tage.
Ja. An dem Mittwoch, von dem ich hier berichten will, waren wir gerade mal den dritten Tag zusammen auf Achse.
Es war verflucht heiß für Londoner Verhältnisse. Der Mitsubishi hatte keine Klimaanlage. Und wir mussten diese Plastikkittel mit dem Firmenemblem tragen. Wegen der Hygiene. Auf unseren Schädeln hatten wir so blöde Schiffchen-Mützen, ebenfalls aus Sauberkeits-Gründen. Dabei waren unsere Tiefkühl-Lieferungen doch alle eingeschweißt und abgepackt. Sagen Sie selbst, ist das nicht Schwachsinn?
Wir steckten also im Stau und schwitzten uns die Hucke voll. Ich hatte eine Saulaune.
Lester grinste mich von der Seite her an.
"Nicht gut drauf, Söhnchen?"
Er sprach mit dem kehligen, rauen Akzent der Karibik-Leute.
"Ach, Scheiße, Lester. Ich schwitze wie ein Schneemann in der Hölle. Und dann müssen wir heute auch noch nach Chelsea!"
"Was hast du gegen Chelsea?"
Der alte Schwarze redete langsam, fast träumerisch. Er sah mich nicht mehr an. Stattdessen spielte er mit dem Amulett, das er um den Hals trug.
"Nichts - außer, dass da nur stinkreiche Bonzen wohnen. Ich bin nun mal eine ehrliche Arbeiterhaut, Lester. Habe was gegen diese Typen, die auf unsere Kosten leben. Diese reichen Schnösel und..."
"Falls sie leben", warf Lester ein.
Ich verstummte. Er hatte das so ruhig gesagt. Aber irgendwie kriegte ich gleich eine Geierpelle. Mir ging der Arsch auf Grundeis, um Klartext zu reden.
"Wie... wie meinst du das denn?"
Lester ließ den rechten Arm aus dem Seitenfenster baumeln. Mit den Fingern der linken Hand trommelte er einen hypnotischen Takt auf das Lenkrad.
"Was denn, Söhnchen?"
"Na, die Typen in Chelsea ... `falls sie leben´, hast du gesagt."
Lester kniff die Augen zusammen. Er starrte mich an. Ich musste meinen Blick abwenden.
"Habe ich das?"
Und während er die Frage stellte, wurde ich unsicher. Hatte Lester wirklich sowas gesagt? Plötzlich bezweifelte ich es. Ich meine, wenn man im Auto sitzt und quatscht, um die Zeit totzuschlagen, dann muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Meinen Sie nicht auch?
"Muss mich wohl verhört haben", brabbelte ich.
Lester klopfte mir mit seiner abgearbeiteten schwarzen Hand auf den Oberschenkel.
"Das meine ich aber auch, Söhnchen. Ein kühles Dunkles wäre jetzt nicht übel, oder?"
Ich verzog die Lippen.
"Mister Bradshaw killt uns, wenn wir bei der Arbeit trinken!"
Mister Bradshaw, das war unser Vorgesetzter.
"Ich trinke nicht, Söhnchen. Ich muss ja schließlich fahren. Aber du kannst ruhig einen zischen. Und wenn du hinterher eine Pfefferminzpastille lutschst, kriegt es keiner spitz. - Nun mach‘ doch schon das Handschuhfach auf!"
Das tat ich.
Und ob sie es glauben oder nicht - darin lagen zwei Dosen Guinness. So kalt, dass sie richtig beschlagen waren. Ich hatte wirklich einen elenden Durst.
Und während ich eine aufriss und an die Lippen setzte, wurde mir richtig unheimlich zu Mute.
Ich hatte das Handschuhfach nämlich gecheckt. Routinemäßig, zwei Stunden früher, bei Arbeitsbeginn. Da war es leer gewesen. Und seitdem hatte ich die ganze Zeit, wenn wir nicht gerade auslieferten, direkt vor dem Handschuhfach gesessen.
Wie hatte Lester das Bier da hineinstecken können, ohne dass ich es spitzkriegte?
Mir wurde ganz schön kalt, das können Sie mir glauben. Und nicht nur wegen dem schönen kühlen Guinness, das nun durch meine durstige Kehle rann...
*
Lester stoppte unseren Lieferwagen vor einer dieser vornehmen, viktorianischen Villen. Mein Kollege schaltete die Warnblinkanlage ein. Wir hielten ja in der zweiten Reihe, und die Politessen sollten es nicht zu leicht haben. Schließlich wollten wir ja nur eben kurz dem Kunden die Bestellung bringen.
Ich linste auf den Lieferschein.
120 Tiefkühl-Fertiggerichte hatte der Chelsea-Bonze geordert, das waren zwei Paletten! Eine schöne Scheiß-Schlepperei! Aber vielleicht würde mich die Arbeit ja von meinen düsteren Gedanken ablenken.
Lester hatte die Schiebetür aufgezogen. Ich lud mir so viele eingeschweißte Pakete auf, wie ich tragen konnte.
Plötzlich berührte mich der Alte am Arm und schaute mir ernst ins Gesicht.
"Söhnchen, egal, was passiert - du musst immer in meiner Nähe bleiben! Und wenn du nicht weiter weißt, dann nimm‘ das hier in die Hand!"
Mit diesen Worten zeigte er mir ein Amulett, das seinem eigenen ähnelte. Es war aus schwarzem Holz geschnitzt. Sah ziemlich afrikanisch aus. Ich meine, großartig Ahnung von Kunst habe ich nicht.
Und dann hängte er mir das Schmuckstück um den Hals, was gar nicht so einfach war, denn Lester ist ja einen Tacken kleiner als ich. Ich neigte meinen Kopf etwas runter, um es ihm leichter zu machen. Außerdem hatte ich immer noch Schiss vor ihm.
Seit der Sache mit dem Bier besonders...
Normalerweise trage ich keinen Schmuck, wissen Sie. Ich bin doch kein Schwuler. Aber dieses Amulett, das sah überhaupt nicht tuntig aus. Eher geheimnisvoll.
Trotzdem wusste ich nicht, was der ganze Zauber überhaupt sollte. Ich meine, wir waren auf einer stinknormalen Auslieferungstour, oder?
Abgesehen davon, dass dies hier Chelsea war, erschien mir nichts ungewöhnlich. Die wenigen Passanten, die durch diese Straße schlenderten, schauten uns an, als wären wir zwei Scheißhaufen. Aber das wunderte mich nicht. Ich bin nun mal aus der working class und Lester ist ein Schwarzer. Da hast du bei solchen Typen keine Chance.
Typisch Chelsea eben.
Aber wieso hatte Lester mir so plötzlich das Amulett geschenkt?
Ich verschob die Frage auf später. Erstmal wuchtete ich meinen Fertiggericht-Stapel hoch und erklomm die Treppenstufen. Natürlich mussten wir den Dienstboteneingang benutzen. Oder was dachten Sie?
Jedenfalls, bevor ich auf die Klingel drücken konnte, ging die Tür von selber auf. Das wunderte mich nicht. Heutzutage gibt es ja ganz ausgekochte Sicherheitssysteme. Besonders hier in London, das immer schon ein heißes Pflaster war, verbarrikadieren sich die Leute in ihren Häusern. Vor allem die Reichen.
Wahrscheinlich war ich im Blickfeld von irgendeiner Überwachungskamera. Ich wollte schon die düstere Stiege im Inneren des Hauses erklimmen, als mich ein scharfer Ruf von Lester zurückpfiff.
"Warte auf mich, Söhnchen! Hast du schon vergessen, was ich gesagt habe?"
Nee, hatte ich nicht. Ich sollte in seiner Nähe bleiben und das Amulett befummeln, wenn es brenzlig wurde.
Also blieb ich in der offenen Tür stehen. Lester kam auf seinen Säbelbeinen heran. Er hatte sich ebenfalls bis zur Nasenspitze Fertiggerichte auf die Arme gepackt.
Mein schwarzer Kollege warf mir einen unergründlichen Blick zu. Er wirkte plötzlich ziemlich nervös.
"Lass‘ mich lieber vorgehen, kapiert?"
Ich hätte mit den Achseln gezuckt, wenn ich nicht so beladen gewesen wäre. Lester war schließlich der Boss. Er hatte auf unserer Liefertour das Sagen. Also drückte ich mich gegen die Wand, um ihn vorbei zu lassen.
Mir fiel auf, dass die Tapete feucht war. Überhaupt lag ein Geruch von Moder und Fäulnis in der Luft. Die Treppenbeleuchtung war mehr als trübe. Auf den funzligen Glühbirnen klebte so viel Fliegenschiss, dass sie kaum noch Licht spendeten.
Das war nun nicht typisch Chelsea.
Normalerweise hat hier jede Kapitalistenfamilie einen ganzen Schwarm von asiatischen Dienstbolzen, die den ganzen Tag lang den Aufnehmer schwingen und den Staubsauger spazieren fahren - und das für einen absoluten Hungerlohn.
Aber dieses Haus hier wirkte irgendwie ... verrottet. Nicht von außen, das nicht. Aber je höher wir auf der Hintertreppe stiegen, desto gruseliger wurde mir zu Mute. Ich hörte auch ferne Geräusche, die aus anderen Bereichen der Riesen-Villa stammen mussten. Erinnerte mich irgendwie an das Fauchen von Raubtieren, wie man es aus dem Zoo kennt. Aber gleichzeitig auch völlig anders.
Vielleicht saß hier irgendwo im Haus ja ein durchgeknallter Familien-Sprössling, der sich auf Video ein paar Horrorfilme reinzog. Das war immer noch die beste Erklärung.
Ich tappte also die Treppe hoch und sah nichts außer den feuchten Tapeten links und rechts und Lesters Kittelsaum vor mir.
Plötzlich hörte ich, wie eine Tür am oberen Treppenende geöffnet wurde.
"Woodland Homeservice, Ma‘ am!", krähte Lester.
Mir fiel auf, dass er seine Stimme verstellt hatte. Er klang plötzlich nicht mehr wie der Lester, den ich kannte. Sondern wie ein idiotischer alter Knacker, der sich schon um den Verstand gesoffen hat.
Die Bonzen mussten ihn für einen Dummkopf halten.
Was bezweckte er damit?
Der Kerl wurde für mich mehr und mehr zu einem Rätsel.
Und dann erklang diese andere Stimme.
"Bringen Sie die Sachen in die Küche."
Mir lief es eiskalt den Rücken runter, als ich die Worte hörte. Gleichzeitig trat mir der Schweiß auf die Stirn - so, als ob Arsenal im Endspiel gegen Manchester City 5 : 0 im Rückstand liegt. Obwohl das nie passieren wird, hehehe.
Jedenfalls haute mich diese Stimme fast von den Socken.
Es war die Stimme einer Lady, und sie redete natürlich nicht wie unsereiner. Aber sie hatte auch nicht so einen versnobten Upperclass-Akzent, wie man es von einer Chelsea-Schnepfe erwarten würde. Dunkel und samtig hörten sich die Worte an. So wie von `ner Jazz-Sängerin, die nicht singt, sondern spricht.
Ich konnte es kaum erwarten, die Lady auch zu sehen. Und als es dann so weit war, ließ ich beinahe die Tiefkühlkost fallen.
Lester war schon Richtung Küche getrabt. Die Flurwände waren hoch
wie bei einer Kathedrale, mit Stuck an der Decke und Stofftapeten. Stinkvornehm, wie ich es erwartet hatte.
Aber was scherte mich der Flur, als ich dieses Wahnsinnsweib beäugte!
Ich bin zwar nicht gerade ein Playboy, aber auch kein Kind von Traurigkeit, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jedenfalls habe ich so meine Erfahrungen gemacht.
Aber eine solche Lady kannte ich bisher nur von Titelfotos in Hochglanz-Magazinen, wie sie beim Friseur rumliegen.
Sie war schwarz wie Ebenholz. Außerdem war die Frau wahnsinnig groß, was nicht nur an ihren Plateau-Absätzen lag. Sie überragte mich gewiss noch um einen halben Kopf, und ich bin nun wirklich kein abgebrochener Riese.
Wie eine Kriegerin wirkte sie, nee noch besser: wie eine Amazonen-Königin, wie man sie manchmal in alten Fantasyfilmen sieht.
Das Kleid aus roter Seide lag hauteng an und betonte ihren Sambahintern und ihre nur apfelgroßen, aber verdammt appetitlichen Dinger.
Der breite Mund in ihrem wunderschönen Gesicht war knallrot angemalt. Um den Hals trug sie ein goldenes Kollier, das sie bestimmt nicht auf dem Trödelmarkt in Camden Town gekauft hatte.
Ich versuchte, die schwarze Lady nicht allzu offensichtlich anzustarren. Schließlich hatte ich keinen Bock, dass sie sich bei Mister Bradshaw über mich beschwert. Ich meine, wer will schon Ärger?
Sie stand mitten auf dem Flur und hatte die Fäuste in ihre Wahnsinnshüften gestemmt. Ihre grünen Katzenaugen beobachteten mich, wie ich diesen Scheiß-Tiefkühlfraß in die Küche schleppte.
Lester hatte seine Tiefkühlpackungen auf einem großen Tisch abgestellt. Ich folgte seinem Beispiel.
Die Küche war blitzblank. Da hätte man vom Fußboden essen können. Aber trotzdem gefiel mir die Atmosphäre da überhaupt nicht. Es war echt gruselig. Obwohl ich nicht sagen konnte, was nicht stimmte. Jedenfalls nicht auf Anhieb. Doch dann fiel es mir ein.
Es miefte so moderig wie auf dem Friedhof!
Hilfe suchend schaute ich meinen Kollegen Lester an. Doch der grinste immer noch wie ein Volltrottel.
Die schwarze Lady hatte sich inzwischen in der Tür aufgebaut.
"Was bin ich schuldig?", zischte sie mit ihrer Jazzsängerinnen-Stimme.
Es klang wie eine Verwünschung.
Plötzlich war sie so feindselig, als ob wir ihr an die Wäsche gegangen wären. Dabei hatten der alte Lester und ich uns doch völlig korrekt verhalten.
Sie starrte meinen Kollegen hasserfüllt an. Und dann bemerkte ich, worauf sie starrte.
Auf sein Amulett!
Ich hatte ja auch so eins in der Tasche. Unwillkürlich wollte ich es umfassen.
Da wurde mir eiskalt.
"Vorsicht, Söhnchen!", rief mein Kollege mit seiner normalen Lester-Stimme.
Aber es war zu spät.
Ich fühlte, wie mich eisige Klauen von hinten packten. Ich hatte vor der Klappe von so einem altmodischen Speiseaufzug gestanden. Diese Hände griffe nach mir. Und ich war zu überrascht, um mich wehren zu können.
Ich wurde also in den dunklen Schacht gezerrt.
Und ich fiel und fiel und fiel...
*
Es wurde schwarz um mich herum.
Ich glaubte, mir jeden verdammten Knochen im Leib gebrochen zu haben. Muss wohl für einen Moment weggetreten gewesen sein. Aber dann merkte ich, dass ich mich doch bewegen konnte. Wenn auch unter Schmerzen.
Ich lag auf hartem Boden. Es war so duster, dass ich nicht die Hand vor Augen sehen konnte.
Wessen Hände hatten mich in den Speiseaufzug gezerrt? Und warum? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Und was spielte Lester für eine Rolle in dieser Story? Hatte er geahnt, was uns blühte?
Sicher, Lester musste es gewusst haben. Warum hätte er mir sonst eingeschärft, in seiner Nähe zu bleiben? Und er hatte mir das Amulett gegeben.
Ich tastete danach. Es war nicht aus meiner Kitteltasche gerutscht.
In der Glotze hatte ich mal gesehen, dass die Schwarzen in der Karibik oft Amulette mit sich rumtragen, um sich gegen das Böse zu schützen. Eigentlich glaube ich ja nicht an sowas. Aber an diesen Tag war mir sowieso schon so unheimlich zu Mute.
Also schlang ich den Riemen des Amuletts um mein rechtes Handgelenk und schloss meine Finger um das Kleinod, damit ich es ja nicht verlor.
Plötzlich ertönte ein dumpfer Trommel-Rhythmus.
Lichter blinkten in der Dunkelheit. Sie kamen näher. Es waren Fackeln. Und dann bemerkte ich etwas, das mich wirklich aus den Latschen hätte kippen lassen. Wenn ich nicht schon am Boden gelegen hätte.
Über mir funkelten plötzlich die Sterne!
Da wurde mir endgültig klar, dass hier etwas nicht stimmte. Ich meine, Chelsea ist schon eine ziemlich merkwürdige Gegend. Aber dass man dort vom Keller aus die Sterne sehen kann, obwohl draußen heller Tag ist, das kann es doch nun wirklich nicht geben. Sowas gibts nur in Fantasy-Filmen.
Das Licht der Fackeln kam immer näher. Ich raffte mich vom Boden auf. Nun konnte ich die Männer sehen, von denen die Fackeln getragen wurden.
Es waren keine Männer. Jedenfalls keine lebendigen. Ein halbes Dutzend Zombies kam mit Fackeln in den Händen auf mich zu.
Haben Sie sich schon mal einen Zombie-Film reingezogen? Vergessen Sie’s! Das ist doch nur Hollywood-Show. Ein richtiger Zombie ist viel unheimlicher. Ich meine, man kriegt wirklich mit, dass kein Leben mehr in ihm ist. Da ist eine Leiche, die herumläuft, mit ihren Totenaugen in die Gegend glotzt und sich bewegt wie ein Roboter. Ihnen mag das vielleicht sogar witzig vorkommen.
Aber wenn man solche Typen auf sich zukommen sieht, dann vergeht einem das Lachen gründlich.
Mir war jedenfalls nicht nach Albernheiten zu Mute. Plötzlich hatte ich am ganzen Körper eine Geierpelle. Meine Hände zitterten wie Espenlaub, obwohl ich normalerweise kein Feigling bin. Ich habe mich schon mit Kerlen gebeult, die einen Kopf größer waren als ich und Schultern so breit wie ein Kleiderschrank hatten. Aber das waren Menschen, zum Henker!
Plötzlich wünschte ich mir sehnlich, dass Lester auftauchen würde. Der Alte war mir ja auch unheimlich, aber doch auf eine andere Art. Jedenfalls war mein Arbeitskollege kein Zombie, so viel stand für mich fest.
Ich versuchte, wegzulaufen.
Aber es war wie in einem Albtraum, wo man rennt und rennt und immer langsamer wird. Die Zombies kreisten mich ein. Es waren Schwarze. Sie alle mussten zu Lebzeiten Stammgäste in einer Muckibude gewesen sein. Jedenfalls waren sie alle viel kräftiger als ich.
Und selbst, wenn sie es nicht gewesen wären - haben Sie schon mal gehört, dass man als Lebender im Kampf gegen wandelnde Tote eine Schnitte hat? Hat man nicht. Das weiß doch jeder, der schon mal einen Horrorstreifen gesehen hat.
Ich versuchte es trotzdem.
Auf einen der Fackelträger stürmte ich zu. Und obwohl mir die Muffe ging, knöpfte ich ihn mir vor.
Immerhin war ich auf der Penne ein mittelprächtiger Rugbyspieler. Und wenn nach einem Heimspiel von Arsenal eine Keilerei in Gang war, habe ich mich auch nicht unbedingt zurückgehalten, wenn Sie verstehen...
Ich täuschte also an. Und als der Zombie glaubte, ich wollte links an ihm vorbei, haute ich ihm mit der rechten Faust in die Fresse!
Das, was ich nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein.
Er taumelte zurück.
Und dann wurde mir klar, warum ich punkten konnte. Mit Rechts hielt ich ja auch das Amulett umklammert. Ob es nun wirklich Zauberkräfte hatte - woher hätte ich das wissen können.
Ich wusste nur, dass jetzt der Weg frei war.
Ich rannte, wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Stellen Sie sich das mal vor: Ich, in meinem dämlichen Kittel und mit der beknackten Schiffchen-Mütze auf dem Schädel, verfolgt von fackelschwingenden nackten Zombies!
Ich lief in die Dunkelheit hinein, so schnell mich meine Beine trugen.
Der Boden unter meinen Schuhsohlen wurde weicher. Bald streiften große Blätter meine Arme und Beine, und es roch plötzlich wie im Tropenhaus vom London Zoo.
War ich jetzt etwa im Dschungel?
Ich hatte nicht lange Zeit, mir darüber Gedanken zu machen.
Denn irgendwann trat ich auf einen Holzscheit. Dann wurde ich nach oben gerissen. Ich hatte mich in einem Netz verfangen, das durch einen Mechanismus aufwärts gezogen wurde.
Ehe ich es mich versah, hing ich fünf Fuß über der Erde.
Je mehr ich strampelte, desto stärker verhedderte ich mich in dem Netz. Was für ein Scheißspiel!
Die Zombies mussten mich nur noch pflücken wie eine reife Frucht.
Sie befestigten das Netz an einer Tragestange und schleppten mich davon. Vorher nahmen sie mir allerdings noch mein Amulett weg.
Sie zerrten so stark daran, dass sie mir beinahe meine Hand mit abgerissen hätten.
*
Die Zombies marschierten mit mir einige Zeit durch diesen unheimlichen, unwirklichen Dschungel. Alles kam mir vor wie in einem Albtraum. Manchmal verwischten die Konturen dieser lebenden Toten, wie so Weichzeichner-Bilder im Film.
Dann hatte ich die Hoffnung, dass ich wirklich pennen würde. Vielleicht war ich ja nach dem Guinness in der Mittagshitze auf dem Beifahrersitz eingeratzt. Gleich würden mich die Hupen der anderen Karren wecken. Oder der alte Lester müsste mich wachrütteln, weil wir die nächste Lieferung hätten...
Na, ich kniff mich jedenfalls kräftig in den Arm. Aber genutzt hat das überhaupt nichts. Die Zombies verschwanden nicht, und auch nicht das Netz, der düstere Urwald und das rhythmische Getrommel aus weiter Ferne...
Schließlich luden die Leichen mich auf einer Lichtung ab. Dort waren einige größere Fackeln in den Boden gerammt. Daher konnte ich nur allzugut erkennen, was dort zu sehen war.
Einige blutige Pfähle standen in der Mitte des Platzes herum. Hühnerfedern lagen auf einem großen Haufen. An der linken Seite der Lichtung hockten ein paar Schwarze und schlugen auf ihre Trommeln ein.
Ich konnte auf die Entfernung nicht erkennen, ob sie ebenfalls Zombies waren oder Menschen. Oder Geister oder was weiß ich. Ich wunderte mich inzwischen über gar nichts mehr.
In dem Moment war ich viel zu geschockt, um Angst zu haben.
Doch das änderte sich, als die Zombies mich abluden. Sie hielten mich fest, während sie mich mit langsamen Bewegungen aus dem Netz befreiten. Zombies sind nicht die Schnellsten. Dafür ist aber ihr Griff härter als der jedes lebenden Menschen.
Mein Amulett hatten sie mir abgenommen. An Flucht war nicht zu denken. Instinktiv spürte ich, dass ich nur mit dem Amulett eine kleine Chance gehabt hätte, diesen Gruseltypen zu entkommen.
Aber das hatte ich mir ja abknöpfen lassen, ich Rindvieh!
Die Trommeln verstummten plötzlich.
Und nun ging mir der Arsch wirklich auf Grundeis.
Bisher hatten die Zombies mich nicht umgebracht. Aber bestimmt nicht aus Menschenfreundlichkeit. Vielleicht heckten sie etwas aus, war schlimmer war als ein normaler Tod...
Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, als ein riesiger schwarzer Panther auf mich zusprang!
*
Ich nehme an, dass es ein Panther war. Ich meine, bin ich vielleicht ein verdammter Zoologe?
Das Vieh war jedenfalls monströs. Es bestand scheinbar nur aus Muskeln und glänzendem dunklen Fell. Und aus einem Maul voll mit Reißzähnen.
Der Panther fauchte so laut, dass mir fast die Trommelfelle platzten. Federnd bewegte er sich mit seinen Pranken auf dem Dschungelboden. Direkt vor mir war er gelandet. Sein aufgerissenes Maul war so groß, dass er meinen Kopf problemlos hätte zum Frühstück verspeisen können.
Aber trotzdem - nachdem meine Pumpe vor lauter Panik erst beinahe ihren Geist aufgegeben hätte, kriegte ich mich wieder ein. Ich bin zwar nicht in Eton oder auf einer anderen Bonzenschule gewesen, aber manchmal bin ich doch ein cleveres Kerlchen.
Darum kapierte ich, dass dieser Panther eine Illusion sein musste, ein Holo-Bild oder sowas.
Waren Sie schon mal im Zoo, beim Raubtier-Gehege? Wenn ja, dann wissen Sie, dass diese lieben Tierchen einen abartigen Mundgeruch haben. Kein Wunder, bei dem vielen rohen Fleisch, das die sich immer reinziehen.
Na, jedenfalls dieser Monster-Panther stank überhaupt nicht, obwohl er sein Maul direkt vor meiner Nase aufriss. Das Vieh verströmte sogar eine Art Wohlgeruch. Erinnerte mich an ein teures Parfüm...
Kein Wunder also, dass ich nach dem ersten Schrecken cool blieb. Die Zombies waren immer noch gruselig genug. Das waren echte Tote. Aber dieser Panther hier war so falsch wie eine drei-Pfund-Note.
Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, als die Umrisse des Viechs zu verschwimmen begannen.
Ich war ziemlich geplättet, das können Sie mir glauben.
Denn plötzlich stand diese schwarze Traumfrau aus der Chelsea-Villa vor mir!
*
Sie war jetzt splitternackt und funkelte mich wieder mit bösen Blicken an.
Doch selbst wenn sie netter gewesen wäre, hätte ich nicht in Stimmung kommen können, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dafür war die Lage einfach zu gruselig.
Allein, von Zombies gefangen, in einem unwirklichen Albtraum-Dschungel, die blutigen Pfähle direkt vor der Nase ... da hätte mich auch die schönste Frau der Welt nicht auf nette Gedanken bringen können.
Die Lady schaute mich von oben herab verächtlich an. Auch ohne ihre Plateausohlen war sie immer noch einen Tacken größer als ich.
"Wo ist denn dein Ayza?"
Da war sie wieder, die Jazzsängerinnen-Stimme.
"Mein was, Ma’am?"
"Stell‘ dich nicht dümmer, als du bist! Dein Schutzgeist natürlich!"
Schutzgeist? Ich hatte das Wort noch nie gehört. Ich meine, gebrauchen hätte ich sowas schon können.
"Ich weiß nicht, wovon Sie reden!", sagte ich wahrheitsgemäß. "Und überhaupt - was soll der Dreck hier? Wir haben Ihnen Ihre Bestellung geliefert, und ..."
Ich verstummte. Es ging überhaupt nicht mehr um Tiefkühlkost. Das hatte ich allmählich kapiert. Und als die Lady wieder redete, bestätigte sie mich.
"Ich will jetzt von dir wissen, wie ihr uns gefunden habt. - du und dein Hungan!"
Wieder so ein Wort, das ich nicht kapierte! Ich ahnte wohl, dass sie Lester damit meinen musste. Aber was, zum Henker, war ein Hungan?
"Ich habe keine Ahnung, was das soll, Ma’am. Wir haben heute morgen unsere Liefertour zusammengestellt gekriegt, von Mister Bradshaw. Das ist unser Chef. Da, auf der Lieferliste, stand Ihre Anschrift."
"Du willst mich wohl für dumm verkaufen?" Die Stimme der schwarzen Lady ähnelte jetzt dem Zischen einer Schlange. "Na gut, du hast es so gewollt. Mal sehen, ob du vor Baron Samedi auch noch so verstockt bist!"
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als sich auch schon die Erde auftat. Und zwar buchstäblich.
Auf der kleinen Lichtung, erleuchtet vom irrlichternden Schein der Fackeln, wurde das Erdreich locker und begann sich zu bewegen. Es wurde zur Seite geschoben.
Und dann schob sich, Inch für Inch, eine Art Totenhäuschen aus grauem Granit nach oben.
Kennen Sie Totenhäuschen? Auf unseren englischen Friedhöfen sieht man die nicht so häufig. Aber ich war voriges Jahr mit ein paar Kumpels im Disneyland Paris. Und Alfie wollte unbedingt das Grab von Jim Morrison besuchen. Das ist natürlich nicht im Disneyland, sondern in Paris selbst, auf einem Riesenfriedhof.
Na ja, und da habe ich diese Totenhäuschen gesehen. Richtig wie kleine Villen sehen die teilweise aus, oder wie alte Römertempel mit Säulen und allem drum und dran.
Jedenfalls fuhr jetzt genau so ein Steinhaus aus dem Boden empor.
Das Totenhaus hatte ein zweiflügeliges Tor. Und das öffnete sich nun langsam.
Ich hielt den Atem an.
Im Inneren des fensterlosen Raumes sah ich nur ein Paar glühender Augen.
Und dann schob sich eine Gestalt nach draußen.
Ich erstarrte vor Schreck, als ich Baron Samedi sah!
*
Jetzt wollen Sie bestimmt wissen, was denn an der Gestalt so furchtbar war. Ich kann es Ihnen nicht sagen.
Das heißt, ich kann Baron Samedi nicht beschreiben.
Okay, ich könnte von einer dunklen Gestalt reden. Aber dann wären Sie auch nicht schlauer, stimmts?
Dunkle Gestalt kann viel heißen. Jedenfalls wache ich auch heutzutage, ein halbes Jahr später, immer noch schreiend und schweißgebadet auf. Alle paar Wochen passiert mir das mal. Und dann habe ich nicht von der schwarzen Lady oder ihrer Panthergestalt oder ihren Zombie-Knechten geträumt.
Sondern einzig und allein von Baron Samedi.
Der Furchtbare richtete nun jedenfalls das Wort an mich. Und seine Stimme klang wie fernes Donnerrollen.
"Ich bin Baron Samedi, der Wächter des Grabes. Verrate mir, Sterblicher, wo sich der Hungan befindet!"
Meine Lippen zitterten. Meine Zähne klackerten aufeinander. Ich schwöre, noch nie ist mir so die Muffe gegangen wie in dem Moment. Obwohl sich mir der Magen umdrehte, konnte ich meinen Blick nicht von dem dunklen Gestalt mit den glühenden Augen abwenden.
"Ich ... ich ..."
Vergeblich versuchte ich, Worte aneinander zu reihen. Was hätte ich auch sagen können, um mich zu entlasten? Dass ich ein ganz harmloser Typ bin, der bei einer Tiefkühl-Lieferungsfirma jobbt?
London, die Pubs, das Stadion von Arsenal, meine Freundinnen - das erschien alles plötzlich so weit weg, als würde es auf einem anderen Planeten liegen.
Ich meine, dieser Baron Samedi wacht über die Pforte zum Jenseits! Kapieren Sie, was das bedeutet?
"Wenn du als Mensch nicht reden willst, dann müssen wir dir wohl deinen ti bon ange abnehmen!"
Was meinte Baron Samedi damit? Ich wusste es nicht. Ich kapierte nur, dass es etwas Schreckliches sein musste.
Er keifte einen Befehl in einer unbekannten Sprache. Die Zombies, die mich immer noch gepackt hielten, zwangen mich zu Boden.
Ich schrie um Hilfe.
Die schwarze Lady lächelte grausam.
"Baron Samedi wünscht, dass ich das Ritual vollziehe!", sagte sie. Plötzlich hatte sie einen gebogenen Dolch in der Hand.
Sie näherte sich mir.
Da gab es plötzlich einen lauten Knall.
Unwillkürlich fuhr die Frau mit dem Dolch zurück.
Plötzlich stand mein Arbeitskollege Lester mitten zwischen uns!
*
Er war es wirklich. Ich konnte es kaum glauben. Allerdings trug er nicht diesen albernen Plastikkittel und das Mützchen, sondern ein weites, afrikanisch aussehendes Gewand. An seinen Handgelenken befand sich Schmuck, der mit seltsamen Symbolen versehen war. Und in der rechten Hand hielt Lester einen Stab mit einem Knauf aus Elfenbein.
Furchtlos trat er vor Baron Samedis Haus.
"Ich bin es, den ihr sucht! Lasst den jungen Mann in Frieden!"
"Du hast mir nichts zu befehlen, verfluchter Hungan! du wirst es noch bereuen, hier erschienen zu sein!"
Lester achtete für den Moment nicht auf die schwarze Lady. Sie schien sich plötzlich auf ihren Auftrag zu besinnen. Sie stach mir den Dolch in die Brust!
Doch die scharfe Spitze drang nur wenige Millimeter in meine Haut ein. Dann hatte Lester die Lage erkannt. Er richtete seinen Stab auf sie, brüllte etwas - und ein Regenbogensturm fegte die Frau mit dem Messer davon.
Ich konnte nicht erkennen, ob sie sich aufgelöst hatte oder was sonst mit ihr geschehen war. Plötzlich war sie nicht mehr vorhanden.
Die Zombies wankten nun auf Lester zu, ihre Totenhände hoch erhoben.
"Ogu Bodagris, hilf‘ mir!", rief Lester und malte mit seinem Stab ein paar Zeichen in die Luft.
Ein Feuersturm setzte ein und verwandelte die Zombies in Aschesäulen, die gleich darauf in sich zusammenfielen. Die Wesen waren ohnehin schon tot gewesen. Lester hatte ihnen offenbar zu einer Feuerbestattung verholfen.
Baron Samedi schien nun richtig wütend zu werden.
Andere Wesen materialisierten sich in der Luft, grausame Geister. Einer von ihnen sah schlimmer aus als der Nächste.
Aber Lester schaffte es anscheinend, sie für den Moment in Schach zu halten. Keine Ahnung, wie er das machte.
Ich blutete leicht aus der Wunde an meiner Brust. Aber zum Glück war nur die oberste Hautschicht verletzt worden. Das würde schnell verheilen.
Lester packte mich am Arm.
"Wir sollten hier verschwinden, Söhnchen!"
Und bevor ich es mich versah, stürzten wir beide in eine Dunkelheit ohne Sterne und ohne Dschungel und ohne Zombies.
*
"Ich kapiere das nicht, Lester."
Das war eindeutig meine eigene Stimme. Aber ich redete nicht, weil ich keinen Körper hatte. Ganz seltsames Feeling. Es war, als könnte ich meine eigenen Gedanken hören - was ja auch nicht ging, weil ich keine Ohren besaß. Jedenfalls nicht in diesem Moment.
"Du brauchst nichts zu kapieren, Söhnchen. Hauptsache, wir sind gerettet. Oder?"
"Ja, aber ... aber was sollte das Ganze?"
"Was denn?"
"Diese schwarze Lady, Lester. Und Baron Samedi. Und ... und die Zombies."
"Diese Lady heißt Kathy Mawu und ist eine Mambo, eine Voodoo-Priesterin. Aber sie hat sich dem bösen Voodoo verschrieben, das die Menschen bedroht und vernichtet."
"Gibt es denn auch gutes Voodoo?"
"Klar gibts das, Söhnchen!" Lesters Stimme klang jetzt empört. "Was glaubst du, wem du deine Rettung verdankst? Olorun, dem obersten Gott des Voodoo!"
"Und du?"
"Was soll mit mir sein, Söhnchen?"
"Ich meine, was spielst du für eine Rolle?"
"Ich? Ich bin nur ein Hungan, ein Voodoo-Priester. Und ich habe lange gesucht, bis ich die Schurken gefunden habe, die in Chelsea schwarzmagisches Voodoo betreiben. Betrieben haben, besser gesagt. Ich habe die Bude gründlich ausgeräuchert, Söhnchen."
"Und was ist ein ti mon ange oder wie das heißt?"
"Das ist der kleine Schutzengel, den jeder Mensch hat. Böse Voodoo-Priester fangen den ti bon ange. Dann bekommen sie Macht über dich und du wirst zum Zombie. Aber dein ti bon ange hat mich rechtzeitig zu Hilfe gerufen."
"Aber dieser Dschungel..."
"Den gibt es nicht. Das war nur ein geistiger Raum, nicht wirklich vorhanden. Genauso eine Täuschung wie der Panther. - Du hast dir nichts vorzuwerfen, Söhnchen. Und nun vergiss am Besten alles. Vergiss es..."
*
"Vergiss es!"
Ich hatte die zweite Dose Guinness ausgegluckert.
Mir mussten die Augen zugefallen sein. Lester saß am Lenkrad und fluchte. Er stellte gerade das Autoradio auf einen anderen Sender.
"Wie kann ich das vergessen, Lester?"
"Wovon redest du, Söhnchen?"
"Na, von Baron Samedi und von der Voodoo-Priesterin und..."
Lester klopfte mir an den Schädel.
"Werd‘ erstmal wach! Ich sagte: vergiss Arsenal! Die haben schon wieder verloren, die Krücken!"
"Aber ... aber in Chelsea..."
Lester warf mir einen Blick zu, den ich nie vergessen werde.
"Wir fahren heute nicht nach Chelsea, Söhnchen! Wir haben Ware für Bayswater, für Camden Town, für Kensington, für die Scheiß-Docklands ... aber nicht für Chelsea! Und jetzt halt‘ mal den Rand und vergiss deinen Traum so schnell wie möglich!"
Ich schluckte und starrte aus dem Beifahrerfenster.
Doch dann schob mich meine Hand unauffällig unter meinen Kittel.
Und wissen Sie, was ich fühlte? Eine Blutkruste, an der Haut direkt über meinem Herzen. Dort, wo die Priesterin den Dolch angesetzt hatte.
Ich fühlte, wie meine Knie wieder weich wurden.
Am nächsten Morgen würde ich Mister Bradshaw bitten, mit einem anderen Kollegen auf Tour gehen zu dürfen.
 

Marchocias

Lord of Demons
Das Zimmer des Selbstmörders

Ich verriß das Lenkrad meines Polos.

Wie ein Alptraum-Monster tauchte plötzlich ein Sattelschlepper hinter mir auf. Die Hupe des Brummis dröhnte durch die dunkle Nacht. Die Karosserie meines Wagens bebte. Ich erschrak. Aber nicht wegen dem nervenzerfetzenden Geräusch. Sondern weil ich auf die Gegenfahrbahn geraten war!
Sofort drehte ich das Lenkrad, brachte den Polo auf die rechte Seite dieser einsamen Landstraße. Der LKW-Fahrer überholte, immer noch wütend hupend. Frau am Steuer! würde er gewiß denken. Wenn er bei dem dichten Nebel überhaupt erkennen konnte, ob Männlein oder Weiblein am Steuer meines Kleinwagens saß.
Ich mußte eingenickt sein. Eine andere Erklärung gab es nicht dafür, daß ich beinahe einen Unfall gebaut hatte. Der Schock mit dem Laster hatte mich für Sekunden hellwach gemacht. Aber nun wurde ich schon wieder schläfrig.

Weiterzufahren wäre Wahnsinn, sagte ich mir.

Irgendwo mußte es doch ein Gasthaus geben, das auch nach Mitternacht noch geöffnet hatte.
Ich fuhr durch eine mir völlig unbekannte Gegend. Namenlose Dörfer im deutsch-holländischen Grenzgebiet zogen an mir vorbei. Dazwischen entlegene Gehöfte und weite, düstere Moorflächen. Soweit ich das bei dem Regen und Nebel erkennen konnte.
Mit Abstand der entlegendste Landstrich, in den mein Chef mich bisher geschickt hatte. Und der unheimlichste...
Seit drei Jahren arbeitete ich nun schon für das Maklerbüro Behrens & Partner. In dieser Zeit hatte ich unzählige Häuser und Grundstücke zwischen Flensburg und Köln auf ihren Verkaufswert hin geprüft. Als Immobilienkauffrau war ich wirklich gut. Nun nun sollte ich eine ehemalige Molkerei an der Grenze unter die Lupe nehmen.

Eine beleuchtete Bierreklame lenkte mich von meinen Gedanken ab. Sollte es wirklich noch einen geöffneten Gasthof geben? Ich hatte mich hinter Nordhorn hoffnungslos verfahren. Seitdem suchte ich wie eine Verrückte nach dem "Objekt", das ich begutachten sollte.
Die Bierwerbung hing an einem windschiefen Haus mit winzigen Fenstern. Kaum zu erkennen, aber für mich verlockend, ein weiteres Schild: FREMDENZIMMER.

Ich stellte meinen Polo neben einigen anderen Autos auf einem unbefestigten Platz ab, nahm meine Umhängetasche vom Beifahrersitz und betrat durch die niedrige Tür das düstere Haus.
Nachdem ich einen schweren Ledervorhang zur Seite geschoben hatte, stand ich in einer verqualmten Gaststube. Schlagartig verstummten die Gespräche der wenigen Männer, die an der Theke saßen und ihrem Bier und Korn zusprachen.

Alle starrten mich an, als wäre ich ein Wesen von einem anderen Stern.

Und so mußte ich wohl auch gewirkt haben zwischen diesen einfachen Bauern bei ihrem Feierabendbier. In meinem flotten City-Kostüm und der schicken lila Bluse paßte ich wirklich nicht in diese Welt. Aber das war mir egal. Ich wollte nicht in diesem entlegenen Dorf einheiraten, sondern nur einmal übernachten.
Es würde eine Nacht werden, die ich nie vergessen sollte...
Ich konnte die feindselige Stimmung der Männer förmlich mit Händen greifen. Trotzdem setzte ich mein schönstes Geschäftslächeln auf und wandte mich an die alte Frau hinter der Theke.
"Guten Abend. Kann ich für heute Nacht ein Zimmer bekommen?"
Die Wirtin taxierte mich, als wäre ich keine Maklerin, sondern eine Prostituierte. Mit ihrer Antwort ließ sie sich Zeit.
"Die Fremdenzimmer sind alle belegt."
Ein ausgebuchtes Gasthaus, mitten im Nirgendwo? Ich war todmüde, hatte keine Kraft mehr zum Streiten.
"Hören Sie, gute Frau", begann ich mit erzwungener Ruhe. "Es ist nur für eine Nacht. Ich will hier keine Wurzeln schlagen. Und ich zahle bar. Es sieht nicht so aus, als ob sich die Touristen in Ihrem Dorf gegenseitig auf die Füße treten."
Ich hatte arroganter geklungen, als ich es vorhatte. Aber die Aussicht, in meinem übermüdeten Zustand weiterfahren zu müssen, war ein Horror für mich.

Hätte ich es bloß getan!

Die ältliche Barmaid kniff mißbilligend die Augen zusammen. Dann verzogen sich die Falten um ihren Mund zu einem Grinsen.
"Ein Zimmer hätte ich noch, gnädiges Fräulein. Aber es ist ganz einfach..."
Gnädiges Fräulein? In welchem Jahrhundert war ich denn hier gelandet? Jedenfalls wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen.
"Einfach? Ich würde auch auf einem Strohsack schlafen, so müde bin ich..."
Plötzlich schien alles ganz problemlos zu sein. Die Wirtin knöpfte mir fünfzehn Euro ab (das ist wirklich billig, dachte ich) und blökte nach einem verhuschten Mäuschen namens Gertrud, das mir mein Gemach zeigen sollte.
Ich folgte der blassen und unscheinbaren Gertrud eine enge und muffige Stiege hinauf, während die Bauern im Schankzimmer ihr Palaver wieder aufnahmen.
Ich freute mich auf ein weiches Bett.
Mein Zimmer befand sich ganz am Ende eines Ganges. Gertrud blickte sich öfter nach mir um. Und schlug dabei scheu die Augen nieder.
Die Einrichtung des Fremdenzimmers bestand nur aus einem Bett mit dicker Daunendecke, einem Schemel, einem Kleiderschrank und einem Waschbecken. Ein Kruzifix bildete den einzigen Wandschmuck.
Ich wollte jetzt endlich schlafen. Doch es schien, als ob Gertrud noch etwas auf dem Herzen hätte. Von selbst würde dieses schüchterne Mädchen wohl nie den Mund aufmachen. Also fragte ich: "Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen, Gertrud?"
Sie schaffte es immer noch nicht, mir in die Augen zu sehen. Immerhin öffnete sie ihre bleichen Lippen.
"J... ja, gnädiges Fräulein. In dem Zimmer hier ... da ... da hat sich einer erhängt. Ein Holländer. Vor fünf Jahren. An dem Balken dort."
Mit zitterndem Zeigefinger deutete sie auf einen der schweren Querbalken unter der niedrigen Zimmerdecke.
Ich bin nicht religiös. Jedenfalls war ich es bis zu dieser Nacht nicht. Und ich muß gestehen, daß ich in diesem Moment für die abergläubischen Landbewohner nur Verachtung übrig hatte. Entsprechend knapp war meine Antwort.
"Aha. Nun, das habe ich bestimmt nicht vor. Ich werde nur gleich tot umfallen, wenn ich nicht meinen Schlaf bekomme. Gute Nacht, Gertrud."
Das Mädchen hatte schon wieder die Augen niedergeschlagen. Sie schien es bereits zu bereuen, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben. Geräuschlos schloß die verhuschte Person die Tür hinter sich.
Ich vergaß den kurzen Wortwechsel auf der Stelle wieder. Sicherheitshalber hatte ich Nachtzeug für Spontan-Übernachtungen in meiner Tasche. Schnell zog ich meine Tageskleidung aus, schlüpfte in Nachthemd und Slip und kuschelte mich unter das dicke Federbett.
Kaum hatte ich die funzelige Nachttischlampe ausgeknipst, als ich auch schon eingeschlafen war.
*
Ein monotones Geräusch weckte mich.
Ich tastete nach meiner Armbanduhr. Die Leuchtziffern zeigten 2.33 Uhr an.
Woher kam dieses regelmäßige Knarren? Von draußen auf keinen Fall. Man hörte weder aus der Gaststube noch von der Dorfstraße einen Ton. Ich wartete fünf Minuten. Ganz weit entfernt ertönte das Motorengeräusch eines Autos. Dann war es verklungen.
Doch das Knarren war immer noch da.
Es klingt, fiel mir plötzlich ein, wie ein Seil, das an einem Balken scheuert...

Ein eisiger Schreck durchzuckte mich.

Ich dachte an den Mann, der sich in diesem Zimmer umgebracht haben sollte. Der Holländer - er hatte sich erhängt, oder? An dem Balken dort vor mir.
Im Zimmer war es stockdunkel. Und obwohl ich in meinem bisherigen neunundzwanzigjährigen Leben niemals abergläubisch gewesen bin, traute ich mich nicht, das Licht anzuschalten.
"Du spinnst doch, Anke!" sagte ich laut zu mir selber.
Schlagartig verstummte das gleichmäßige knarrende Geräusch.
Na also, dachte ich und drehte mich auf die andere Seite. Doch gleich darauf ertönte ein lautes Plumpsen.
Es klang, als würde ein lebloser Körper auf den Fußboden fallen!
Ich mußte mir auf die Lippen beissen, um nicht zu schreien. Vielleicht war der ganze Hokuspokus ja nur ein übler Scherz der schlechtgelaunten Wirtin und dieser unterbelichteten Gertrud? Das versuchte ich mir krampfhaft einzureden.
Aber ich traute mich immer noch nicht, die Nachttischlampe anzuknipsen.
Für einige Sekunden herrschte Ruhe. Doch dann schleifte etwas Schweres über den Boden. Und dieses Etwas näherte sich meinem Bett!
Mein ganzer Körper fühlte sich eiskalt an. Ich zitterte trotz der warmen Bettdecke wie Espenlaub. Obwohl das Schleifen sehr leise war, schien es in meinen Ohren zu dröhnen. Und dann war da plötzlich diese Stimme. Sie schien aus weiter Ferne zu kommen. Und sie formte ein Wort, das ich nicht verstand.

"...Helbezoeker..."

Fieberhaft überlegte ich. Was sollte ich tun? Aus dem Fenster springen? Dann mußte ich wenigstens nicht an diesem ... diesem Etwas vorbei. Denn die Spukgestalt befand sich zwischen meinem Bett und der Zimmertür.
Obwohl ... gesehen hatte ich bisher nichts. Weder einen Schatten noch einen Umriß oder sonst etwas.
Das ist nur ein Alptraum! schnauzte ich mich selber an. Unternimm‘ jetzt endlich was, du hysterische Ziege!
Mit einem Ruck schlug ich die Bettdecke zurück. Mit beiden Füßen landete ich gleichzeitig auf dem Bettvorleger. Dann machte ich einen riesigen Satz Richtung Tür.
Das heißt, ich wollte es.
Aber mitten im Sprung stolperte ich über ... über etwas Hartes.
Schmerzhaft knallte ich mit der Stirn auf die Bodendielen. Doch das war nichts im Vergleich zu der Panik, die ich empfand.
Das laute Keuchen kam nun aus meiner eigenen Kehle. Vor lauter Angst vergaß ich fast zu atmen. Meine Brust war wie mit Eisenklammern zusammengeschnürt. Ich richtete mich auf Handflächen und Knie auf, schnellte nach vorne.
Endlich berührte ich die Klinke der Zimmertür. Ich hatte nicht abgeschlossen. Zitternd drückte ich sie herunter und zog die Tür auf.
Trübes Lampenlicht drang in das stockdunkle Zimmer. Auf dem Korridor brannten die altmodischen Leuchten. Ich warf mich der Helligkeit entgegen.
Dann endlich traute ich mich, das Deckenlicht meines Zimmers einzuschalten.
Der Raum war leer.
Auf dem Fußboden lag kein Selbstmörder, und von dem Balken baumelte kein Strick. Nur der Bettvorleger war verrutscht. Wahrscheinlich war ich über ihn gestolpert...
Nun war ich mutig geworden. Ich traute mich sogar, den Kleiderschrank zu öffnen. Aber er enthielt außer einem Dutzend Drahtbügeln absolut nichts. Dann linste ich noch unter das Bett. Auch dort lag keine Leiche oder Spukgestalt.
Es war nur ein böser Traum! beruhigte ich mich selbst.
Ich schloß die Tür zum Gang, löschte das Deckenlicht und kroch wieder unter das warme Federbett.
Einige Sekunden vergingen in absoluter Stille.
Dann fiel mir plötzlich ein, daß sich in dem Raum doch etwas verändert hatte.
Das Kruzifix war nicht mehr da!
Bevor ich diesen Gedanken verarbeiten konnte, ertönte das schleifende Geräusch wieder. Es bewegte sich erneut auf mein Bett zu.

"... Helbezoeker ..."

Die Stimme aus der Ferne schien mich auszulachen. Wie ein unheimlicher Papagei wiederholte das Wesen immer wieder dasselbe Wort.
"...Helbezoeker...Helbezoeker..."
Ich war nur noch ein wimmerndes Häufchen Elend, das sich in seinem Bett zusammenrollte. Mir fehlte der Mut, noch einmal aufzustehen und einen Fluchtversuch zu wagen. Wie ein Kind kniff ich die Augen ganz fest zusammen. In der Hoffnung, das Schreckliche verbannen zu können...
Und dann zog plötzlich etwas an meiner Bettdecke!
Nun war es vorbei mit meiner Beherrschung.
Ich schrie um mein Leben. Weit riß ich den Mund auf und brüllte, wie ich noch nie in meinem Leben gebrüllt hatte. Die Tränen liefen in Strömen über meine Wangen, und ich schrie noch immer.
Ich schrie auch noch, als die Wirtin und Gertrud in ihren bodenlangen Nachthemden schon in mein Zimmer gestürmt waren und das Licht angedreht hatten.
Außer den beiden Frauen war niemand zu sehen.
Aber meine Bettdecke war am Fußende zerfetzt! Die Feder quollen aus der Decke!
Die alte Frau machte aus ihrer Verachtung für mich kein Hehl.
"Dem gnädigen Fräulein ist wohl unsere ländliche Ruhe nicht bekommen", höhnte sie. "Ihr Stadtmenschen müßt eben immer Tamtam machen..."
Ich rang nach Luft, fühlte mich absolut entsetzlich. Ich zeigte auf den leeren Fleck an der Wand.
"Das ... das Kreuz ...", keuchte ich. "Der ... der Selbstmörder..."
"Da hat noch nie ein Kreuz gehangen", sagte die Wirtin schnell. Etwas zu schnell für meinen Geschmack. Das entging mir nicht, obwohl ich in einem entsetzlichen Zustand war.
"Der ... der tote Holländer..."
"Toter Holländer?" Die Alte streifte Gertrud mit einem heimtückischen Blick. "Alles Unsinn, gnädiges Fräulein. Hat diese dumme Gans Gertrud wieder getratscht? Die arbeitet wohl noch nicht genug..."
Gertrud schien sich am liebsten unsichtbar machen zu wollen.
Ich blieb keine Minute länger in diesem Gasthaus. Nachdem ich mich angezogen und die kaputte Bettdecke bezahlt hatte, flüchtete ich in meinem Polo. Der Schock saß so tief, daß ich nicht wieder am Steuer einnickte.
*
Zwei Wochen nach diesem Abenteuer hatte ich mich wieder einigermaßen beruhigt. Bei einem Geschäftsessen unseres Maklerbüros in Düsseldorf lernte ich einen sympathischen neuen Kunden kennen.
Er hieß Henk Boutenlaan, war gebürtiger Holländer und sprach fließend Deutsch.
Beim Dessert fragte ich ihn beiläufig nach der Übersetzung des Wortes "helbezoeker".
Henk Boutenlaan hob überrascht die Augenbrauen.

"Helbezoeker? Das bedeutet auf Deutsch übersetzt soviel wie `Höllenbesucher´ oder `Besucher aus der Hölle´. Wo haben Sie denn dieses holländische Wort aufgeschnappt, Anke? Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen so bleich aus ... Ist Ihnen das Fruchteis nicht bekommen?"
 

Marchocias

Lord of Demons
Im Geisterkerker des Paschas

Historische Gruselgeschichte von Martin Barkawitz
(Kapitel aus dem Romanmanuskript "Die Spionin des Dogen")




Alina war nackt und halbtot, als sie von den Mameluken in das Verließ geworfen wurde. Die Venezianerin blieb stöhnend auf dem feuchten Stroh liegen. Die Osmanen rammten hohnlachend die Tür hinter ihr zu. Alina konnte hören, wie man von außen einen Riegel vorlegte.
Dann verharrte sie in fast völliger Dunkelheit. Ein Fenster hatte das Kerkerloch nicht. Nur ein Luftschacht sorgte dafür, daß die Insassin nicht erstickte. Alina tastete an der Wand entlang. Schließlich hatte sie das Belüftungsrohr gefunden. Es war so eng, daß noch nicht einmal ihre schmale Hand hineinpaßte. Somit stellte es sich völlig unmöglich dar, dort hindurchzukriechen.
Die Spionin untersuchte ihre Wunden, sofern das in der Finsternis möglich war. Einige Rippen waren zweifellos angebrochen. Auf ihrer Zunge schmeckte sie Blut. Zwei Zähne hatten sich gelockert. Ihr linkes Auge würde vermutlich noch im Laufe der Nacht zuschwellen.
Die Mameluken hatten sie mit Knüppeln verdroschen. Aber immerhin hatten diese Bastarde darauf verzichtet, sie zu schänden.
Das war allerdings nur ein schwacher Trost. Alina war sicher, daß sie nicht aus Menschenfreundlichkeit auf dieses abscheuliche Verbrechen verzichtet hatten.
Vielmehr sollte sie, die venezianische Meisterspionin, gewiß für Chaireddin Pascha persönlich reserviert werden!
Was für eine Genugtuung für den Sultan von Konstantinopel!, dachte Alina grimmig. Sie war der Trumpf in der Hand des venezianischen Dogen gewesen. Und nun befand sie sich in der Gewalt seiner schlimmsten Feinde, die bereits ihre Flotte rüsteten, um Venedig endgültig zu vernichten. Chaireddin Pascha würde nicht ruhen, bis er auch die letzte venezianische Galeere auf den Meeresboden der Adria gebohrt hatte.
Und sie, Alina? Was würden sie mit ihr machen?
Allmählich wich ihre Wut blanker Todesangst. Sie mußte an das entsetzliche Ende von Kommandant Bragadius denken, dem

Verteidiger von Famagusta. Nein, so wollte sie auf keinen Fall sterben! Und gleichzeitig wurde ihr voller Grauen klar, daß man sie vermutlich noch schlimmer martern würde als den glücklosen Stadtkommandanten. Allein schon deshalb, weil sie nicht nur eine Christin, sondern auch noch eine Frau war!
Alina fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Gewiß, als Spionin hatte sie gelernt, Schmerzen zu ertragen. Aber alles hatte seine Grenzen, und diese Grenzen ...
Plötzlich wurde ihre Gedankenflut gestoppt.
Etwas hatte nach ihrem Arm gegriffen!
Die Venezianerin hielt den Atem an. Sie hatte geglaubt, allein in dem Kerkerloch zu sein. Andererseits - irgend jemand mußte ja diesen Gestank hier unten verursacht haben. Es roch nach altem Blut, nach Kot und Urin. Es hatte schon seine Gründe, warum das Stroh, auf dem sie lag, feucht war.
Alina spürte nun deutlich eine Hand an ihrem Arm. Die Finger fühlten sich eiskalt an. Sehen konnte sie in der Finsternis immer noch nichts. Aber stattdessen konnte sie sich auf ihr Gefühl verlassen. Und sie spürte ganz deutlich, daß auf den Fingern kein Fleisch war.
Eine Knochenhand hatte ihren Arm gepackt!
"Nein!", rief Alina. "Laß' mich in Ruhe!"
"Ich habe so lange auf Gesellschaft gewartet", erwiderte eine Grabesstimme. Im nächsten Moment schüttelte die Spionin sich vor Ekel. Sie bemerkte, daß ein Totenschädel in ihren Schoß rollte!
Irgendwie schaffte es Alina, den Knochenkopf wegzustoßen. Sie hörte, wie er sich drehte und schließlich an einer der Kerkerwände zur Ruhe kam.
"Du wirst mich noch schätzen lernen", behauptete die Totenstimme. "Wenn du erst einmal so aussiehst wie ich, dann wird dir deine Ziererei kindisch vorkommen ..."
Alina verkroch sich in die hinterste Ecke des Verließes. Sie beherrschte viele Techniken des waffenlosen Kampfes. Das hatte ihr allerdings gegen eine ganze Schar von bärenstarken Mameluken nichts genützt. Und auch gegen diese Gespenst würden ihre Schläge und Tritte wohl erfolglos sein.
Vielleicht werde ich ja wahnsinnig, dachte Alina voller Galgenhumor. Und das ist nicht das Schlechteste. Dann bekomme ich möglicherweise nicht so mit, was Chaireddins Folterknechte mit mir anstellen werden ...
Der Geist näherte sich ihr.
"Du kannst aus diesem Kerker entkommen, Venezianerin."
"Wie soll das gehen?", fragte sie zurück. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nicht mehr mit dem feinstofflichen Wesen zu sprechen.
"Es ist ganz einfach. Du mußt nur sterben, so wie ich es getan habe. Wenn du tot bist, können sie dich nicht mehr verletzen. Sie ..."
"Halt' den Mund!", rief die Spionin verzweifelt. Sie preßte die Fäuste auf ihre Ohren. Aber dann geschah etwas anderes.
Die Kerkertür wurde um einen Spalt geöffnet. Trübes Licht drang herein. Aber das war nicht alles. Alina witterte auch einen Geruch, der sogar den Gestank nach Blut und Kot überdeckte.
Es duftete plötzlich nach Mandeln, Nougat und Rosenwasser!
Tränen der Erleichterung traten in ihre Augen.
Es gab wohl nur einen Menschen auf der Welt, der mit seinem geliebten Zuckerwerk in den Taschen diese Festung auf den Dardanellen betreten würde.
Leopoldo!
Sie hatte geglaubt, er wäre mit der Galeasse von Kapitän Fanbadho untergegangen. Aber er mußte sich aus dem Wrack gerettet haben.
Und dann vernahm Alina auch schon die hohe Fistelstimme ihres treuen Dieners.
"Herrin?"
"Hier", krächzte die Spionin. Sie wollte gleichzeitig weinen und lachen und tat dann doch keines von beidem. "Ich bin hier, Leopoldo."
Der riesige Leib schob sich in die Kerkerzelle. Andere Menschen staunten darüber, daß sich ein so dicker Mann wie der Eunuche so leise bewegen konnte. Aber Leopoldo war ohnehin nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Das schätzte die Spionin ja gerade so an ihm.
Die großen warmen Hände des Entmannten tasteten nach ihrem Körper. Und bevor Alina es sich versah, hatte Leopoldo sie auf seine Arme gehoben.
"Ihr seid verletzt", flüsterte er. "Ihr dürft euch nicht bewegen."
"Da ... da ist ein Geist, Leopoldo", stammelte Alina.
"Der muß hier bleiben", kicherte der Eunuche. "Ich habe ja das Schutzamulett von Sanct Marco um den Hals gebunden!"
Und wirklich hatte sich die feinstoffliche Gestalt nicht mehr gemeldet, seit Leopoldo in das Verließ gekrochen war.
Draußen auf dem Gang lagen die Mameluken, die Wache gehalten hatten. Alina erschauerte beim Anblick dieser blutigen Bündel, die vor kurzem noch furchteinflößende Krieger gewesen waren.
Leopoldo hatte sich an ihnen gerächt. Er hatte ihnen mit seinem Sarazenendolch tausendfach heimgezahlt, was sie seiner Herrin angetan hatten. Wieder einmal erkannte Alina, wie grausam Leopoldo sein konnte. Doch derselbe Leopoldo versorgte daheim in Venedig mit unendlicher Geduld und Liebe seine Singvögel, die sein ganzer Stolz waren.
Venedig!
Eine heiße Welle von Heimweh erfaßte die Spionin, als ihr Diener sie behutsam eine steile Treppe emportrug. Es wurde Zeit, heimzukehren. Und sei es auch nur, um in Venedig unter den Salven osmanischer Kanonen zu sterben.
Es war, als ob Leopoldo ihre Gedanken gelesen hätte.
"Noch ist unser Kampf nicht verloren, Herrin", flüsterte der Eunuche mit seiner hohen Stimme. "Wir können siegen. Aber nur, wenn Don Juan d' Austria unsere Flotte gegen die Osmanen in die Schlacht führt!"
Wenn Alina nicht solche Schmerzen gehabt hätte, wäre sie erstaunt gewesen. Seit wann leistete der Eunuche sich den Luxus einer politischen Meinung?
Die Spionin war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Der starke Leopoldo band sie auf seinem Rücken fest. Und dann kletterte er geschickt an einem Seil hinab, das er über die Festungsmauer geworfen hatte.
Alina bekam nur noch mit, daß er sie an Bord eines kretischen Fischerbootes schaffte. Dann fiel sie in einen todesähnlichen Schlaf.

quelle:eek:snabrueck-net
 
Oben